
Der Kreuzfahrt-Tourismus boomt. Auf Luxuslinern im Multimega-Format können verwöhnte Pauschaltouristen beinahe ganzjährig, in immer schmäleren Intervallen, die mediterranen Küstenmetropolen des Kontinents besuchen. An Bord dieser überdimensionierten Protzfrachter lebt der Kunde, unter tausenden mehr, in Saus und Braus; entbehrt er kaum einer der maximal möglichen, ihm sorgsam angewöhnten und im Preis stets inbegriffenen Annehmlichkeiten: jene also, die eine auf Komfort und Konsum getrimmte, analoger Lebensweisen immer mehr entwöhnte Kaste auch wie selbstverständlich fordert und in Anspruch nimmt. Weit davon entfernt, im Ausland etwas anderes zu suchen oder zu entdecken als das ihnen Passende oder Genehme, hasten und hetzen diese Menschen, rastlos und überaktiviert, an allem vorbei und vorüber, und damit den bis zum Erbrechen inszenierten Schimären digitaler Postkartenansichten hinterher, die man ihnen als exklusive Erlebniswelten verkauft, aber längst hat sich ja die ganze touristisch erschlossene Welt in ein einziges, bis auf den letzten Zentimeter zugestelltes Warenlager von der Stange umverwandelt. Man könnte auch sagen: in eine billige, gleichwohl bestens aufpolierte Allzeithure, die im Sekundentakt die Beine spreizt und den vor ihrem Schoß auflaufenden Massen das prickelnde Gefühl vermittelt, sie nähmen gerade an einer Gang Bang-Party teil. Die totale Mobilmachung Erlebniskollernder Kunden, die überall nur das Gleiche, dann aber in gesteigerter Potenz erwarten, übertrifft alles Gewesene, nie aber die begleitenden Erwartungen jedes Einzelnen, der so einer im Ganzen sinnlosen Zerstreuung frönt, weil ihm die tieferen Beweggründe des Lebens längst abhanden gekommen sind. Darum bucht er insgeheim schon die nächste Aktivroute. Angeblich auch und gerade, um mal so richtig auszuspannen. Doch selbst das integrierte Sauna, – und Wellness Angebot gleicht, in der Totale, viel eher den Exzessen einer geschmacklosen Massentierhaltung als das sich in dem Gewusel echte Erholung, Entspannung irgendwie erkennen ließe. Kraft eines zu Wasser, zu Lande und in den Lüften florierenden, kaum FCK-freundlichen Dauer-Geschäfts geraten ganze Lebenswelten in den Furor eines Ausverkaufs, der zu Ramschpreisen und auf Kosten vorgefundener Kulturen vollzogen wird. Er überlagert gewachsene Traditionen oder ebnet diese vollständig ein und schafft so eine multiglobale Monokultur, in der alles wie angekündigt, also: wie gewohnt in Erscheinung tritt; und damit selbst gewöhnlich wird. Grenzenlos.
Die Wege derer, die auf besagten XXL-Schiffen hin, – und her pendeln kreuzen sich seit Jahren mit den Routen solcher, die aus der entgegengesetzten Richtung kommen und von dort aus ihrerseits voller Erwartung in See gestochen sind. Auf geblähten Gummibooten trachten sie das gelobte Land zu erreichen, aus welchem diese immer wieder neu aufbrechen ´um was zu erleben´. Einmal gerettet oder angekommen, landen auch die als ´Flüchtlinge´ bezeichneten Migranten in den endlos herauf und herunter besichtigten Metropolen völlig überlaufener Anrainerstaaten, als da immer noch Italien, Griechenland oder Spanien sind und wohl auch bleiben werden. Um von dort aus in die verbliebenen Staaten des Nordens zu gelangen, deren Abkömmlinge den vermeintlichen Erlebnisurlaub bei Laune halten. Eine Zweiklassen-Gesellschaft wuselt und wimmelt so, recht unbemerkt, aneinander vorbei, und alle flüchten sie vor etwas, und keiner von allen findet so Recht, was er zu suchen meint. Sie alle nämlich jagen einem Phantom hinterher. Sie alle gehen dabei wie selbstverständlich davon aus, das überall dort, wo ihres gleichen strandet, gefälligst den eigenen Ansprüchen genüge getan werde. Sofort. Ohne lästige Abstriche. Das verbindet, und trennt zugleich: unbeabsichtigte Begegnungen nicht ausgeschlossen. Die Armutsmigranten aus Südosteuropa haben wenig mit denen aus noch südlicherer Richtung gemein, aber sie alle eint doch der eine Wunsch, es einmal all denen nachmachen zu können, die auf der Aida shoppen und großzügig zu Tisch sitzen, sich am langen Pool räkeln oder von der noch längeren Reling kotzen: all inclusive.
Man kann den begleitenden Umstand kaum zu Ende bestaunen: während sich entlang des Mittelmeers und vor den Toren der vielbereisten Adria die Kohorten zuwandernder Schutzbefohlener stapeln, tummelt sich auch der moderne Tourist dortselbst in öder, blaff blöder Masse, und beide vertreiben verlässlich all jene, denen besagte Gebiete einst Heimat gewesen sind. Heimat? Die darf es so in einer modernen, globalisierten Welt natürlich gar nicht mehr geben. Sie löst sich auf, in ihre letzten Bestandteile. In den Ballungszentren treffen sich die Heimatlosen dieser Welt en gros wieder: aus dem reichen Norden kommend oder dem bitterarmen Süden entrinnend, flüchtend vor Langeweile und Überdruss, vor Krieg und Zerstörung, und zerstören oder verlassen die Horden ihrerseits letzte Reste einstiger Heimat, hinterlassen sie so auch, Hand in Hand, eine Schneise der Verwüstung. Sie alle tun dies längst mit einer Selbstverständlichkeit die an kollektiven Autismus grenzt.
Sie alle lockt, gerade dieser Tage, der Frühling – das günstige Angebot. Freilich: Sowohl denen, die auf den Vergnügungskreuzern kommen wie auch solchen, die in kaum seetüchtigen Nussschalen unterwegs sind, läuft die eigene Überfahrt irgendwie aus dem Ruder, denn viel zu viele Menschen sind da auf einmal unterwegs, und verwandeln sie hier die Reise in eine nivellierende Massenveranstaltung, verunmöglicht dort die Zahl derer, die wie die Heringe aneinander kleben jeden Komfort, den man sich aber erträumt, schaut man in Richtung reiches Europa. Jene, die es irgendwie an Land schaffen, überrennen wie selbstverständlich einen auf der großen Karte recht zierlich anmutenden Kontinent, dessen Nationalstaaten ihrerseits an eigenen Krisen schwächeln, ja teils schon auf Raten dran zugrunde gehen. Keinen derer, die ungefragt kommen, interessiert das. Es brodelt nicht einzig in den ehemaligen Drittweltstaaten: auch in der ersten, der bevorzugten Welt verschieben sich die Kräfte, geraten die Verhältnisse aus Fugen, die man für verlässlich hielt. Freilich: gefeiert wird solange, bis der Kahn der Glückseligen endgültig kentert.
Solcherlei Phänomene fügen sich in ein Bild, das von den Meisterdenkern der Vergangenheit umfassender beleuchtet wurde als dies heute, in Zeiten globaler Ubiquität, noch der Fall sein kann. Wir stecken nämlich mittendrin, und die Ereignisse überschlagen sich, wie soll man da den Überblick bewahren? Ins Bild gehört die von Ernst Bloch erstmals erwähnte, neuerdings in Konjunktur zitierte ´Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen´, deren Auswüchse gerade im digitalen Zeitalter fröhliche, mitunter irrwitzig anmutende Urstände feiern. Sie kulminieren allerorten und entsprechen in allen ihren Erscheinungen je unterschiedlich einer ´tiefen Paradoxie alles Lebendigen´, die der Publizist Karl Korn einst in den Werken Thomas Manns als kennzeichnende künstlerische Konstante entdeckt haben wollte. Das bis in die Antike zurückreichende Prinzip der Dialektik überschneidet sich dynamisch mit den einander beißenden und befruchtenden Divergenzen; und zwar insofern, als das die jeweiligen Gegensätze nahezu unausweichlich, früher oder später, jäh oder abwartend, langsam oder abrupt einander begegnen müssen, dicht auf dicht. Der alte Hegel glaubte in diesem Zusammenhang noch an einen zielgerichteten Prozess: füglich und vernünftig, schicksalstreu und offen auf ein Ziel hin, dass er erreicht sehen wollte im preußischen Staat, der ihn hofierte. Uns Heutigen begegnet die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so ausdauernd und penetrant, so schamlos und ermüdend, dass wir infolge verlässlicher Abstumpfungen immer weniger davon bewusst zur Kenntnis nehmen. Ein den ganzen Aufwand rechtfertigendes, die wirren Verhältnisse irgendwie versöhnendes Ziel ist dabei nicht in Sicht. Alles löst sich in Rekordgeschwindigkeit vor unseren Augen auf und macht einer Beliebigkeit Platz, die sich im Oberflächlichen genießt. Gerade das Internet in seiner prinzipiellen Form, – und Grenzenlosigkeit potenziert den Effekt. Etwa, wenn sie einen Artikel über den jüngsten Selbstmordanschlag lesen und gleichzeitig mit Anzeigen von Paarship belästigt werden, passend platziert über einem Artikel, der sich wiederum den schief gelaufenen Beauty-OP´s irgendeines Popsternchens widmet, nebst passendem Bild inkl. Airbag. Passt nicht? Passt schon.
Es kann und soll hier nicht der Ort sein, die auf den ersten Blick stets verzettelt anmutenden Vorgänge in Nordafrika und dem nahe Osten unter den Auspizien jener Dualität zu beleuchten die ich bis hierhin angedeutet habe. Sieht man nur etwas genauer hin, begegnet man begleitend gewissen Gesetzmäßigkeiten, die im tagespolitischen Wirbel eher untergehen oder bewusst außer Acht gelassen werden. Aus vermeintlich zivil-bürgerlichen Revolten werden im Handumdrehen mörderische Stammes, – und Sektenkonflikte, und die stets omnipotenten geostrategischen Verstrickungen befeuern den Furor verlässlich. In der öffentlichkeitswirksamen Wahrnehmung bzw. Deutung begleitender Vorgänge, ihrer Ursachen nebst weiteren Folgen, wird seitens der Medien in Diametrie zu den tatsächlichen Hintergründen echte Propaganda betrieben: stets aus Kalkül – mit Absicht also. Die Janusköpfigkeit dieser ´Informationsträger´ gefällt sich in Übertreibungen unterschiedlicher Art und scheut auch nicht davor zurück, Divergenzen Quotenträchtig nebeneinander zu stellen. So mutiert der Migrant zum verzweifelten Flüchtling und, als Einzelner, zum Massenmörder; zum fleißigen Azubi oder zum ausgebufften Alimentejäger. Freilich: beides stimmt und gehört ins Bild. Allein: was wiegt am Ende mehr? Wie verteilen sich die Schwerpunkte? Welche werden auch ehrlich ´gewogen´ und wo werden, abermals aus Kalkül, gewichtige Hintergründe verschwiegen? Zuspitzung oder Relativierung: mal werden Zusammenhänge übertrieben oder gleich ganz unter den Teppich gekehrt. Wie hängt alles wirklich miteinander zusammen? Der Zwiespalt deutet sich hier in der interessengeleiteten Bewertung so trefflich an wie in den Phänomenen selbst, die vieldeutig und divergent bleiben.
Als vor bald zehn Jahren der sogenannte arabische Frühling ausbrach, konnte sich keiner ausmalen, dass heute in Ägypten wieder ein Ultramonarch das bettelarme, multikorrupte Land beherrscht (demnächst bis mindestens 2030). Der Alawit Assad behauptete entgegen allen Prognosen kraft russischer Schützenhilfe die eigene Hausmacht. Die üblichen Verdächtigen werden nicht müde zu behaupten, das sich im Urlaubsfreundlichen Tunesien, trotz alle Anschläge, der zivile Protest gelohnt habe, im Sinne einer freiheitlich rechtlichen Grundordnung, die sich in dem kleinen Land angeblich dauerhaft etabliert. Aber die Sturmwehen eines arabischen Frühlings, der dort die ersten Blüten trieb, fegen seither recht heftig in der Region umher und haben viel Wüstenstaub aufgewirbelt. Den die Winde immer öfter mit sich forttragen. An heißen Tagen taucht er den Himmel über Mitteleuropa trügerisch in kompakte Schleier. Marrakesch und die Folgen: beide zehren von einem Unvermögen, das in der Dialektik begleitender Miseren kaum auf die bestmögliche aller Welten zuarbeitet, wie Hegel meinte. Eher noch nähern wir uns einmal mehr den Ansichten seines Antipoden, des störrischen Herrn Schopenhauer an, der meinte, dass immer schon die schlechteste aller Welten gewesen sei. So begegnet und ergänzt sich auch im Weltanschaulichen ein Dualismus, dem man nirgends mehr entrinnt. Auf den Standpunkt, mehr noch: auf den Standort kommt es an. Ob Luxuskreuzer oder Schlepperschiff: Orient und Okzident, Abendland und Morgenland, und immer mehr auch umso weiter voneinander getrennte Lebenswelten geraten permanent in Bewegung, in Berührung, in Beziehung – und einander heillos in die Quere. Hochaktuell geschah das gerade auch im fernen Sri Lanka, wo in Kirchen und Luxushotels (sic!) hunderte von Menschen massakriert worden sind. Aus Sicht der Täter: passend zum Osterfest.
Heute wird der Papst sein Urbi et Orbi aussprechen, die Erregten und Empörten marschieren zeitgleich in routinierter Manier für den Frieden durch die Metropolen, und auch der Kontergeneral Chalifa Haftar lässt eben mächtig gegen eines dieser Ballungszentren aufmarschieren: seine bis an die Zähne bewaffneten Truppen stehen vor Tripolis Gewehr bei Fuß. Auf breiter Front. Sie wird auch wirklich immer breiter. Gleichzeitig im Ungleichzeitigen. In Algerien und im Sudan marschieren die Massen Beleidigter und Entrechteter ihrerseits auf: heute gegen die verhassten Regime, morgen Richtung Europa. Am munter florierenden Massentourismus vorbei. Im Schatten der Ruine von Notre Dame lassen die französischen Gelbwesten nicht weniger locker. Alle Revolutionen, fand der alte Marx, haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht der Mensch. Hier hätte gerade der am anderen Ende der philosophischen Erbauung oszillierende Schopenhauer, dem jeder Volksaufstand ein Gräuel war, kaum widersprochen. Wohl auch nicht weiland Hegel, wäre ihm noch vergönnt gewesen zu erleben, was unter Marx und seinen Jüngern aus der eigenen, eigentlich für endgültig befundenen Lehre wurde. Errare humanum est.
Ihnen allen ein besinnliches Osterfest.
Ihnen allen ein besinnliches Osterfest.
Shanto Trdic – 21.04.19